top of page

Ausgestorben! Zum Umgang mit hörbarem Verlust

Der Schwund an Biodiversität ist ein schmerzhaftes Thema im Zeitalter des Anthropozäns. Diese Kolumne (re)imaginiert Stimmen von ausgestorbenen und erfundenen Vögeln und fragt, inwiefern solche Klänge als kulturelle Praxis der Bewältigung von Solastalgie dienen können.



24.07.23


Im Jahr 1858 besuchten die britischen Zoologen John Wolley und Alfred Newton auf der Suche nach dem Riesenalken, einem flugunfähigen Seevogel, Island. Nach Gesprächen mit lokalen Bauern und Fischern wurde ihnen bald klar, dass ihre Bemühungen vergeblich waren. Die letzten Riesenalken waren, erzählten ihnen die Isländer, vierzehn Jahre zuvor aufgrund der wachsenden internationalen Nachfrage für Museumsexponate erlegt worden. Ihre vergebliche Suche nach dem Riesenalken beschreiben Wolley und Newton in den in der Cambridge University Library einsehbaren Notizbüchern The Gare-Fowl Books.


Ein Riesenalke im Kelvingrove Museum in Glasgow. Die Art starb mitunter aufgrund der Überjagung für Museumsexponate aus. Foto: © Mike Pennington (cc-by-sa/2.0 über geograph.org.uk/p/1108249).

Alfred Newtons Arbeiten über den Riesenalken sowie über weitere ausgestorbene Vogelarten wie den Dodo oder den Rodrigues-Solitär – die bereits im 17. respektive 18. Jahrhundert auf Mauritius und den dazugehörigen Inseln ausgerottet worden waren – führten dazu, dass Mitte des 19. Jahrhunderts nicht nur das natürliche Aussterben, das bereits Charles Darwin beschrieben hatte, sondern auch das «unnatürliche», vom Menschen verursachte Aussterben von Arten ins Bewusstsein gebracht wurde.[i] Von diesen ausgestorbenen Vögeln sind zwar noch Zeichnungen vorhanden, doch ihr Singen und Rufen ist letztlich verloren gegangen. In gewissen Fällen existieren lediglich schriftliche Beschreibungen davon. Die Stimmen von Vögeln, die vor der Erfindung von Audio-Aufnahmetechnologien verschwunden sind, aus solchen Beschreibungen zu rekonstruieren, ist jedoch nur schwer möglich, wie es das Beispiel des Huia zeigt.


Illustration des ausgestorbenen Huia-Vogels aus Walter Lawry Bullers «A History of the Birds of New Zealand» (1888; Illustration: J. G. Keulemans). (Bild über Wikimedia Commons)

Der Huia, eine ebenfalls flugunfähige Vogelart aus Neuseeland, wurde 1907 das letzte Mal gesehen. Sein Ruf jedoch überlebte: 1949 liess der Lokalhistoriker Tony Batley den Maori Henare Hāmana, der 1909 Mitglied einer – erfolglosen – Huia-Exepdition auf der neuseeländischen Nordinsel war, in einem Studio in Wellington den Vogel nachahmen. Zu hören ist die Kommunikation zwischen einem Männchen und einem Weibchen.


Stimmen von ersten, in Gefangenschaft gehaltenen Vögeln wurden ab den 1890er Jahren aufgezeichnet. In freier Wildbahn konnten Vögel erst ab den 1930er Jahren in mehr oder weniger befriedigender Qualität aufgenommen werden. So meint man heute, der Huia sei knapp einer möglichen Verewigung auf Platte entkommen. Auch wenn weitere, unbestätigte Sichtungen in den 1920er und sogar noch in den 1960er Jahren in einem versteckten Huia-Gebiet berichtet wurden, wird der Vogel heute definitiv als ausgestorben angenommen. Der britische Komponist David Hindley hat auf der Basis der Aufnahme von Henare Hāmana, von Beschreibungen und Notationen des Huia-Gesangs sowie Rufen von verwandten Vögeln und mit Hilfe eines Synthesizers die Stimme des Huia 1992 zu rekonstruieren versucht. Der Sound klingt zwar vogelähnlich, aber letztlich bleibt er etwas technisch-artifiziell. Das Zurückholen verlorener Tierstimmen ist – das zeigt dieses Beispiel und das zeigen viele weitere Versuche – kein einfaches Unterfangen.


Kulturelle Techniken der versuchten klanglichen Rekonstruktion und Reimagination [sind] ein Versuch des Hörens [...] in eine Vergangenheit, und [...] eine Auseinandersetzung mit dem Schwund an Biodiversität durch menschliches Tun.

Das Gefühl des Schmerzes oder der Trauer über den Verlust durch Umweltzerstörung wird heute als eco-grief oder Solastalgie bezeichnet. Es stellt sich die Frage, ob solche kulturellen Techniken der versuchten klanglichen Rekonstruktion und Reimagination von vergangenem Leben eine Form der Verlustbewältigung darstellen. Es ist ein Versuch des Hörens in eine Vergangenheit, und es ist eine Auseinandersetzung mit dem Schwund an Biodiversität durch menschliches Tun. In diesem Zusammenhang ist mir die Liste an erfundenen Vogelarten von Valère Novarina in die Hände gekommen, die als eine imaginierte Anreicherung von Biodiversität gedeutet werden kann. In Le discours aux animaux von 1987 hat der Schweizer Schriftsteller 1111 neue Vogelarten aufgezählt, die Leopold van Verschuer in die deutsche Sprache übertragen hat.[ii] Hier eine Auswahl der Vogelnamen, die mir am besten gefallen haben:


Der Hippling. Die Dramse. Der Alpknist. Der Tringarol. Der Larvatz. Die Girle. Die Harfrümme. Der Widewitt. Der Alkwist. Die Drissel. Der Pilpring. Die Wilelle. Der Huckeduck. Der Flüfing. Der Laubsäger. Der Rabutz. Die Cirzille. Der Durrli. Die Kicherkolle. Der Hurrhurr. Die Schlerme. Das Rotgreinchen. Die Sormse. Der Mermel. Der Ari. Der Schichtelhopf. Der Kleffschniper. Der Siluitt. Der Kürbling. Die Schältzepfe. Der Marssegler. Die Lumsel. Die Blachröller. Der Sinflum. Der Seesaiber. Der Planden-Ahr. Der Dandren-Ahr. Die Trillwirre. Der Wirbelwirl. Das Glattkehlchen. Der Obro. Die Velinse. Die Bibassine. Die Bartzeise. Die Intel. Die Taberninke. Der Glimpfling. Der Keilknäpper. Die Astknäke. Der Ulmück. Der Uling.


Diese Liste erfundener Vogelarten, die den Fluss von Novarinas Prosatexts beim Lesen durch ein Stakkato an Namen durchbricht und diesen letztlich gar beendet, verweist auch auf die parataktische Form unserer wissenschaftlichen wie auch emotionalen Beziehung zu Biodiversität und Artenverlust: Diese besteht aus Listen. Neben Auflistungen von ausgestorbenen Tieren gibt es die bekannte Rote Liste der gefährdeten Tierarten. Glücklicherweise gibt es auch eine Liste mit nicht gefährdeten Tier- und Vogelarten. Durch die Negation von «gefährdet» verweisen aber die Aufgelisteten in dieser Liste immer auch auf ihre potenzielle Umkategorisierung in eine andere Liste, beispielsweise in diejenige der potenziell gefährdeten Arten.


Die obige Liste neuer, also erfundener Vogelarten kehrt künstlerisch die Welt um: Anstatt einer potenziellen Abnahme, wird ein potenzieller Zuwachs an Vogelarten suggeriert. Und so stellt sich die Frage: Wie klingt der Uling oder die Schältzepfe? Auf spielerische Art und Weise habe ich für ausgewählte Vögel passende Rufe gesucht und sie wie auf Vogelstimmen-Schallplatten listenhaft angeordnet: Zuerst hören Sie den Speziesnamen (für einmal von einer Google-Stimme gesprochen), dann folgt der Ruf – und weiter geht es mit der nächsten Art.



Die Klänge habe ich auf Basis der Assoziationen, die die Vogelnamen in mir ausgelöst haben, ausgewählt. Manchmal lief es auch andersrum: Beim Hören von Klängen habe ich aus der Liste von Novarina denjenigen Vogel ausgewählt, der am besten zum gehörten vogelähnlichen Ruf passte. Es sind hauptsächlich menschliche Stimmen, selten auch Instrumente, die den Novarinischen Vögeln ihre Stimme geben. Ein Spiel der Umkehrung also: Hier geben Menschen Vogelarten eine Stimme, anstatt sie ihnen, wie beim anthropogenen Aussterben, zu nehmen.


 

[i] Pálsson, Gísli: Fuglinn sem gat ekki flogið. Reykjavík 2020. In englischer Übersetzung: The Last of Its Kind. The Search for the Great Auk and the Discovery of Extinction. Princeton 2024.

[ii] Novarina, Valère: Le discours aux animaux. Paris 2016 (Erstausgabe 1987). In deutscher Übersetzung von Leopold van Verschuer: Die Rede an die Tiere. Berlin 2017.




bottom of page