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Wem vertrauen? Menschen oder Zertifikaten?

Welchen Lebensmittel-Zertifikaten vertrauen wir? Welchen nicht? Dieser Beitrag untersucht diese Frage durch das Prisma der italienischen «Genuino clandestino»-Bewegung – frei interpretiert: «unverfälscht und klandestin». Mit diesem provokativen Namen bezeichnen sich einige kleine, aber selbstbewusste Ernährungssouveränitätsnetzwerke in Italien, die Antworten auf die Herausforderungen einer nachhaltigeren Zukunft geben wollen, ohne dabei auf die langsamen Mühlen der offiziellen Standardisierung zu warten.



25.10.23



Die Gewalt der Standardisierung

Als K. im Dorf ankommt, bleibt er an der alten Brücke stehen. Er blickt nach oben, dorthin, wo «das Schloss» sein soll, nimmt aber nur eine augenscheinliche Leere, eine Dunkelheit wahr. Er hat das Gefühl, verloren zu sein.

Mit dieser Beschreibung einer unfassbaren Leere der Macht beginnt Franz Kafka Das Schloss. Die Geschichte beschreibt die Suche nach dem Verstehen in einer unerreichbaren, abstrakten Leere eines Macht- und Herrschaftszentrums, symbolisiert von einem Schloss. Der Versuch, in das Schloss einzudringen, könnte auch als Metapher für das Verhältnis zwischen Produzent*innen oder Konsument*innen, die oft das Vertrauen verloren haben, und dem globalen Ernährungssystem fungieren.


Die Ernährungspolitik ist global zunehmend durch eine Vielzahl scheinbar objektiver Standardisierungs- und Zertifizierungsverfahren gekennzeichnet, die dazu dienen sollen das Vertrauen in das Ernährungssystem aufrecht zu halten. Trotz immer ausgefeilteren Vorschriften für die Produktion nachhaltiger Lebensmittel überwiegt nämlich das Gefühl, die Kontrolle über die Qualität der Erzeugnisse zu verlieren.


In diesem Beitrag[i] geht es mir darum, dass Standardisierung ein Symbol für Entfremdung, für einen Vertrauensverlusts in Produkte der Globalisierung geworden ist, und zu fragen, welche Alternativen es gibt. Auf der Grundlage laufender ethnographischer Feldforschungen in Mittelitalien[ii] – Umbrien, Toskana und Latium –, habe ich beobachten können, wie die Bewegung «genuino clandestino» [GC] einen rasanten Zulauf erlebte; eine Bewegung, die sich aus bereits bestehenden Verbraucher*innen- und Erzeuger*innengruppen (Gruppi d'acquisto solidali, GAS) und ökologisch-anarchistischen Netzwerken entwickelt hat. Im klassischen Sinn wirtschaftlich so gut wie unbedeutend, wurde GC vor rund zehn Jahren gegründet. Die Bewegung stellt entschieden die Praktikabilität der aktuellen EU-Verordnungen für nachhaltige Landwirtschaft und hygienische Lebensmittelverarbeitung in Frage, welche dafür kritisiert werden, Grossunternehmer*innen und industrielle Massenproduktion zu bevorteilen und das Vertrauen in das Ernährungssystem zu unterhöhlen.


Seit 2013 verfolge ich diese Entwicklung in ländlichen Gebieten, die auf eine jahrzehnte-lange Geschichte von ländlichem Aktivismus, Permakultur-Kommunen und Öko-Kommunen zurückblicken. Warum und wie werden nun aber alteingesessene Landwirte in die Aktivitäten des Netzwerks miteinbezogen? Welches Potenzial hat diese Bewegung, um ein Umdenken in der Politik für Nachhaltigkeitsstandards zu bewirken?


Mitglied der «genuino clandestino» schenkt Kaffee aus. Foto: Alexander Koensler

Vertrauen in Standardisierung, Vertrauen in Menschen

In der Regel werden alternative Netzwerke für den Austausch von Lebensmitteln weithin mit «ethischem Konsum» in Verbindung gebracht, also mit Nischenmärkten, die irgendwie außerhalb der Sphäre der herrschenden Verhältnisse angesiedelt sind. Der einzigartige Fall des entstehenden Netzwerks CG in Italien zeigt einen anderen Ansatz. Die Bewegung wurde ursprünglich 2010 als ironisches «Anti-Logo» zu den kommerzialisierten Bio-Lebensmittel-Labels auf den Bio-Märkten in Bologna gegründet. Ausschlaggebend für die Gründung war ein Event, ein Markt, auf dem es zu Problemen kam, weil nicht alle anwesenden Kleinbauer*innen nachweisen konnten, dass sie die Standards für offizielle Bio- und Hygienezertifizierungen eingehalten haben. Die Betroffenen monierten, sich an höhere Standards zu halten als die aktuellen EU-Labels für Bio-Lebensmittel. Dennoch waren sie nun gezwungen, ihre Produkte in rechtlichen Grauzonen oder informell zu produzieren.


Das innovative Potenzial von CG liegt in der Fähigkeit, die Art und Weise, wie wir mit Lebensmittel handeln, drastisch zu überdenken, sich das Recht auf Zertifizierung wieder anzueignen und Qualitätsstandards selbst festzulegen. CG setzt sich also aktiv mit den herrschenden Machtstrukturen auseinander, anstatt sich ihnen zu entziehen oder sie stillschweigend zu hintergehen.


Ernährungssouveränität – eine andere Art von Vertrauen?

In einem Interview schildert der Gründer eines lokalen Netzwerks der Ernährungssouveränität, Käseproduzent Andrea Zappa, die Anfänge seines Aktivismus und neuen Lebens als Kleinbauer:

«Viele von uns waren Biobauern, die mit der offiziellen EU-Bio-Zertifizierung gearbeitet haben. Mit der Zeit wurde uns aber klar, dass diese Zertifizierung eine Reihe von Problemen mit sich bringt. Offizielle Bio-Zertifizierungen sind profitorientiert. Wenn Sie eine offizielle Zertifizierung erhalten, können Sie finanzielle Unterstützung für den ökologischen Landbau beantragen. Wir waren aber Kleinbauern, wir sind anders. Meine eigene Erfahrung zum Beispiel ist nicht nur eine persönliche, sondern eine kollektive Geschichte. Ich gehörte zu einer Gruppe, die gegen Ende der 80er Jahre die Stadt verließ. (…) Dabei stellte sich bald heraus, dass unser Traum nicht zum Wirtschaftsmodell der intensiven Landwirtschaft und der Agroindustrie passte. Wir mussten uns etwas einfallen lassen. So versuchten wir, uns eine Lebensrealität zu schaffen, in welcher Lebensmittel kollektiv und hierarchiefrei produziert werden.»

Für Andrea Zappa entsteht Vertrauen aus zwischenmenschlichen Beziehungen, aus Austausch und Kooperation, anstatt aus dem Verharren auf festgeschriebenen Regeln und objektiven Kriterien. Ein anderes Beispiel ist Tonys Geschichte. Den größten Teil seines Wohlstands verdiente er in den 80er Jahren in Perugia, wo er ein beliebtes Lokal mit drei Terrassen betrieb. In Folge aber suchte er einen entspannteren Lebensstil und kaufte schließlich einen verlassenen Bauernhof in den Bergen. Auf seiner Facebook-Seite nennt er diesen «Free Collelumesc», eine Anspielung auf ein halb unabhängiges Gebilde, in dem die staatliche Autorität wenig Platz hat. Hier produziert er seinen Wein namens «Rosso Clandestino», den er auf Märkten und politischen Veranstaltungen verkauft. Mit seiner Frau bäckt er traditionelle Kuchen (crostate) mit Bio-Weizen und Marmelade vom Nachbarshof. In Interviews zeigt er seine Verbundenheit mit der Idee des «Marktplatzes» als Ort des sozialen Austausches und der Kreativität.

Im Stuhlkreis: Versammlung «genuino clandestino». Foto: Alexander Koensler

Ein letztes aufschlussreiches Beispiel für die zentrale Bedeutung menschlicher Beziehungen in der Landwirtschaft liefert die Geschichte von Angela. Als sie vor zwei Jahren ihren Job verlor, holte sie sich das unbebaute Land ihres Vaters in den Bergen zurück, etwa zwei Autostunden von ihrem Zuhause entfernt. Von ihren Ersparnissen kaufte sie einen gebrauchten Traktor und einige Geräte und begann mit der Produktion von Weizen und Linsen und etwas Schafsmilch. Im ersten Jahr investierte sie viel Zeit und Mühe, um Zertifizierungen für ihre Produkte zu erhalten. 1600 Euro jährlich kostete sie allein die Lizenz, ihre Linsen verkaufen zu dürfen. Darüber hinaus musste sie sie zu einer offiziell anerkannten Reinigungsanlage bringen, die drei Autostunden von ihren Feldern entfernt liegt. Im zweiten Jahr traf sie sich mit anderen Bauern und begann, ihre Milch an einen Freund zu verkaufen, der Käse ohne offizielle Zertifizierung herstellte. Auf den Märkten verkauft Angela heute sowohl ihre legalen Linsen als auch den illegalen Käse.


Anfänglich nahm Angela wie viele andere an den Treffen der lokalen Slow Food-Präsidien teil, war aber von deren Regeln enttäuscht und fand den Preis für Linsen überteuert. Sie erklärt: «Bei mir steht nicht der Profit im Vordergrund, sondern das ehrliche Wirtschaften. Bei Slow Food wurde mir mitgeteilt, dass ich wie ein Verbraucher und nicht wie ein Geschäftsmann denke.»


Viele Aktivisten versuchen die Zwänge Standardisierung durch zwischenmenschliches Vertrauen zu überwinden. Oft mit erstaunlichem Erfolg. Im Fall von Angela hat ihr «sozialer» Ansatz beim Verkauf von Linsen zu wachsendem Vertrauen und einer Erweiterung ihrer Kundschaft geführt. Der Austausch von Lebensmitteln eröffnet menschliche Beziehungen, die auf Vertrauen und Kreativität basieren. Trotz einiger Unklarheiten ist der Wert dieser nicht marktorientierten Beziehungen also die Grundlage für eine Dynamik, die neue Formen des «Vertrauens» zwischen Erzeugern und Verbrauchern schafft. Nicht zufällig werden in GC-Kreisen die Konsumenten oft als Koproduzenten bezeichnet. Auf den GC-Märkten verbringen die Produzenten erstaunlich viel Zeit mit den Käufern, erklären die Produktionsprozesse und schließen Freundschaften. Die Beziehungen sind überwiegend horizontal, nicht hierarchisch organisiert, dies gilt auch für die Zertifizierungsverfahren durch externe Sachverständige.


Warenauslagen am Markt. Foto: Alexander Koensler

Resonanz-Sphären

Das Konzept der «Resonanz-Sphären», wie es vom Soziologen Hartmut Rosa[iii] entwickelt wurde, ist ein Schlüssel zum besseren Verständnis der Bedeutung persönlicher Beziehungen in der Wirtschaft, so auch im Ansatz von CG. Inspiriert von dem Interesse der Frankfurter Schule am Verständnis der Entfremdung im zeitgenössischen Kapitalismus, untersucht Rosa, wie das zunehmende Gefühl der Entfremdung in den heutigen Gesellschaften aus der Notwendigkeit des Finanzkapitalismus resultiert, die menschlichen Beziehungen zu ökonomisieren, zu beschleunigen, zu messen und zu standardisieren. Als Subjekte fühlen wir uns aber durch Resonanzbeziehungen in der Welt zu Hause; sie geben uns einen Sinn. In der industrialisierten Agrarindustrie wird der Austausch von Lebensmitteln dagegen über instrumentalisierte Beziehungen organisiert, nicht nur in Supermärkten. In Das Schloss bleibt Kafkas Figur K. ambivalent. Es gelingt ihm nie, sich mit der Elite des Schlosses zu treffen. Kafka hat das Buch nicht beendet und wir können das endgültige Schicksal von K. nicht kennen. Man könnte durchaus sagen, dass die Unsichtbarkeit der aristokratischen Elite bei Kafka als Vorläufer der zeitgenössischen Neugestaltung der sozialen Beziehungen gesehen werden kann, wie sie in der Etablierung von Autorität durch objektive Zertifizierungen zum Ausdruck kommt.


Die Grenzen dieser Standardisierung zeigen sich eindringlich in den Erfahrungen der Menschen, die – als Produzent*innen ebenso wie als Konsument*innen – das Recht auf Bewertung und in Folge Zertifizierung für sich in Anspruch nehmen, um das Vertrauen als eine direkte zwischenmenschliche Erfahrung zu etablieren. Sie entwerfen ein alternatives Modell zu den instrumentalisierten Beziehungen, die in der aktuellen Lebensmittelzertifizierung zum Ausdruck kommen. Dies lässt sich nicht mit ethischem Konsumverhalten oder dem Entstehen neuer und spezialisierter Nischenmärkte erklären. Vielmehr ist es der Versuch, einen Eckpfeiler der zeitgenössischen Machtzentren zu durchdringen. Es handelt sich mit anderen Worten auch um ein Modell, die Art und Weise wie wir Vertrauen schaffen zu überdenken und in Frage zu stellen.

 

[i] Der vorliegende Beitrag integriert teilweise Übertragungen aus dem Englischen von Haimo Perkmann der Zeitschrift Kulturelemente, dem ich für sein Interesse danke. [ii] Diese Feldforschungen wurden im Rahmen des Peasant Activism Projects durchgeführt. Einige Ergebnisse finden sich in Challenging the Age of Transparency: Emancipatory Transparency-Making in Food Governance in Italy (American Anthropologist, im Druck) und in Reinventing Transparency. Governance, Trust and Passion in Activism for Food Sovereignty in Italy (Ethnologia Europaea, 48, 1, pp. 50-68). [iii] Hartmut Rosa, Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (Suhrkamp 2019).





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