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Misstrauen – Schmiermittel des Populismus

Bei Anti-Corona-Demonstrationen wie der Megademo in Wien treffen unterschiedlichste gesellschaftliche Gruppen aufeinander. Sie teilen nicht alle eine kohärente politische Agenda, wohl aber ein gemeinsames Gefühl: Misstrauen – gegenüber den Eliten, dem Staat und seinen Institutionen. Wie lassen sich die zugrundeliegenden Mechanismen kulturtheoretisch erklären?



21.4.23


In der österreichischen Tageszeitung Der Standard vom 9.1.2023 war zu lesen: «Am Dreikönigstag, dem 6. Jänner, war wieder eine sogenannte Megademo in Wien unterwegs. Einige hundert Personen zogen in Marschkolonnen über den Ring. Ihre Botschaften: gegen Abtreibungen und für die Errichtung einer ‹Festung Österreich› gegen die angebliche ‹Asylflut›. Es waren jene Gruppen, die sich in den vergangenen Jahren bei Corona-Demonstrationen gefunden haben: Rechtsextreme, prorussische Aktivisten, christliche Eiferer und Anhängerinnen von Verschwörungsmythen […]. Beim Auftakt der jüngsten ‹Megademo› sprach der als katholischer ‹Theologe› vorgestellte Wolfram Schrems. Er wetterte in seiner Rede gegen Abtreibungen und ‹Giftmischer›, die ‹uns mit schädlichen Mitteln infizieren wollen›. Schließlich seien auch die Abtreibungen Teil der ‹Impfstoffgewinnung›».


Tatsächlich waren bei den Demonstrationen während der Pandemie äusserst diverse Gruppen zugegen, die unterschiedliche Anliegen verfolgten, dabei aber dennoch gemeinsam zum Demonstrieren aufriefen. Was sie ursprünglich offenbar vereinte, war, dass sie sich gemeinsam gegen die sogenannten Corona-Massnahmen richteten.

Abb. 1: Der Rechtsextremist Martin Sellner auf der Demo in Wien (Foto: Markus Sulzbacher/Der Standard)

Weshalb aber demonstrieren die gleichen Gruppen nunmehr, nachdem die Pandemie weitgehend überstanden scheint, bei der vom Standard aufgegriffenen ‹Megademo› vom sechsten Januar 2023, mit neuen Anliegen? Und auf welche Weise vermögen ihre sehr unterschiedlichen Themen und teils widersprüchlichen Verschwörungsnarrative es, sie im Protest zu vereinen? Letztlich handelt es sich hier um populistische Bewegungen, für die die Konstruktion eines Gegensatzes von Volk und Elite im Zentrum steht und die sich dafür wechselnder Inhalte bedienen. Dabei kommt Misstrauen als mobilisierender und Zusammenhalt erzeugende Emotion eine entscheidende Bedeutung zu.


Misstrauen als mobilisierende Gegenemotion

Misstrauen stellt, wie die Soziologin Helena Flam ausführt, einen wichtigen Bestandteil des Rekrutierungsprozesses und der Aufrechterhaltung des Engagements für soziale Bewegungen dar: Es dient ihnen dazu, (potentielle) Mitglieder in eine Opposition zur Mehrheitsgesellschaft zu bringen. Bewegungen versuchen, eine Veränderung politischer Ansichten in Gang zu setzen, die es erlaubt, Missstände zu erkennen und Alternativen zu denken. Dazu ist es notwendig, sich von vorherrschenden Normen zu distanzieren. Emotionen wie Dankbarkeit, Loyalität, Angst und Scham stabilisieren gesellschaftliche Zustände; Bewegungen erzeugen daher subversive Gegenemotionen, zu denen nicht nur Hass, Verachtung und Wut, sondern auch Misstrauen gehören. Sie versuchen, die Menschen von ihrem Vertrauen in Behörden und von ihrer Annahme, dass diese für das Gemeinwohl arbeiten, zu entfremden. Dieses routinemässige Vertrauen entspringt einer Erwartungshaltung an den modernen Wohlfahrtsstaat und dessen Selbstdarstellung als Garant für Sicherheit und Gesundheit. Skandale oder diesbezügliche Defizite wie zum Beispiel Impfnebenwirkungen bieten Angriffspunkte für Kritik und Misstrauen. Die emotionale Resozialisation der Aktivist*innen wird flankiert von Darstellungen, die die Schuld vom Individuum auf das System verlagern.


Diese Erklärungsmuster tragen dazu bei, Misstrauen auf der Makro-Ebene, also in Bezug auf gesellschaftliche Normen oder das politische System, zu verstärken. Misstrauen strukturiert gemeinsam mit seinem Pendant, Vertrauen, die Beziehungen zwischen den Aktivist*innen selbst und ihren Gegner*innen: Dem Misstrauen nach aussen entspricht Vertrauen nach innen. Vertrauen in die eigenen Chancen, etwas zu verändern, erzeugt Motivation und hält sie aufrecht. Vertrauen in andere Bewegungsmitglieder und die Bewegung selbst ist in vielen Protest-Situationen notwendig. Misstrauen mobilisiert, indem es einen Grund schafft, sich mit alternativen Meinungen zu beschäftigen und es ruft ein Gefühl der Ungerechtigkeit hervor.


Misstrauen in aktuellen populistischen Aktivismen

Der Soziologe und Kulturwissenschaftler Peter Ullrich hat in den letzten Jahren Formen des Populismus beobachtet, die durch die Ablehnung einer Selbstverortung als links vs. rechts, die Zurückweisung «großer Erzählungen», einen Modus der Empörung sowie eine radikale Ablehnung des demokratischen Systems und minimales Vertrauen in Institutionen gekennzeichnet sind. Diese neuen Aktivismen haben auf den ersten Blick sehr heterogen erscheinende Themen, die einander ablösen. So kritisierten die Akteur*innen der «Wiener Megademo» wie beispielsweise die Kleinpartei MFG-Österreich Menschen – Freiheit – Grundrechte 2021 die Corona-Massnahmen, haben nun aber eine Petition gegen die «Migrationsflut» initiiert (s. Abb. 2).

Abb. 2.: Volksbegehren der Partei MFG gegen Zuwanderung. Foto: MFG Österreich

Ähnlich formierten sich die aktuellen «Montagsdemonstrationen» in Sachsen zunächst ebenfalls gegen die Pandemie-Bestimmungen, protestieren momentan jedoch gegen Waffenlieferungen an die Ukraine. Es scheint sich hier also nicht um auf bestimmte Problemfelder oder Missstände konzentrierende Bewegungen zu handeln. Dennoch haben die Themen einige Punkte gemeinsam.


Erstens sind sie bei näherem Hinsehen mit einer spezifischen politischen Haltung verknüpft: Sie sind anschlussfähig an rechte, verschwörungsideologische und antisemitische Deutungsmuster. Dem entspricht die Zusammensetzung der Bewegungen: Viele Akteur*innen können dem rechten Spektrum zugeordnet werden. Bei der «Megademo» in Wien waren die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ) und Anhänger*innen der Identitären Bewegung zahlreich vertreten (s. Abb. 1); auf den «Montagsdemonstrationen» werden Reichsflaggen geschwenkt, dort demonstrieren neben CDU-Anhänger*innen Mitglieder der Alternative für Deutschland (AfD) und der rechtsextremen Partei Freie Sachsen.


Zweitens sind die Themen in hohem Masse emotionalisierend – sie betreffen das Alltagsleben der Bürger*innen und ihr Selbstverständnis unmittelbar. Und drittens sind sie geeignet, Misstrauen zu erzeugen: gegen den Wissenschaftsbetrieb – etwa Mediziner:innen, die vor Corona warnen –, gegen etablierte journalistische sogenannte ‹Mainstream›-Medien, gegen staatliche Institutionen und den Staat selbst sowie gegen prominente Akteur*innen der Wirtschaft, etwa wenn Ken Jebsen, ein Verschwörungsideologe im Umfeld der Querdenker*innen, verbreitet, die Bill & Melinda Gates Foundation habe aus Profit- und Machtstreben der deutschen Regierung die Covid-Massnahmen diktiert.


Die Ablehnung bestimmter emotionalisierender Inhalte kann zum gesellschaftlichen Kit mutieren, der Akteur*innen unterschiedlichster weltanschaulicher oder soziodemographischer Hintergründe vereint, wie die Politikwissenschaftler*innen Weronika Grzebalska und Peto Andrea am Beispiel von ‹Gender›[i] verdeutlichten. Analog dazu stellt Misstrauen den emotionalen Kit, das Schmiermittel, populistischer Bewegungen dar. Innerhalb der Querdenker*innen-Bewegung kommt Misstrauen eine integrative Funktion für Sinnstiftung und Vergemeinschaftung zu.[ii]


Das Misstrauen in den neuen populistischen Aktivismen ist mit Angst vor Veränderung und vor dem Verlust von Privilegien oder Freiheitsrechten (Anti-Coronamassnahmen-Demonstrationen) verbunden. Misstrauen gegenüber der outgroup (Fremdgruppe) erhöht Vertrauen in die ingroup (die eigene Gruppe) und damit Gruppenkohäsion und Zusammenhalt. Das, was trennt, vereint also gleichzeitig: Die Narrative des Misstrauens schweissen die Aktivist*innen im Wissen darum zusammen, zur Elite derer zu gehören, die die Täuschungen des Systems durchschaut haben. Ähnlich verhält es sich bei Verschwörungserzählungen, die teilweise als Unterstützung solcher Narrative des Misstrauens fungieren.


In einer prinzipiell für unsicher gehaltenen Welt mit unklaren Spielregeln [...] sorgt das Misstrauen dafür, dass alles für möglich gehalten wird.

Selbstverstärkende Wissensdynamiken

Die Dichotomie von Misstrauen gegenüber der outgroup und Vertrauen gegenüber der ingroup hat Konsequenzen für Standards, die an die Beurteilung von Informationen als wahr vs. falsch angelegt werden. Während dem etablierten Journalismus als Teil des ‹Systems› misstraut und unterstellt wird, nicht der Wahrheit entsprechende Inhalte zu verbreiten («Lügenpresse»), wird selbst absurd anmutenden Informationen unseriöser Webseiten vertraut und betreffende Inhalte werden keiner tiefgreifenderen Prüfung oder Kritik unterzogen. Zur Ablehnung grosser Erzählungen und zum generalisierten Misstrauen gegenüber dem ‹System› gehört nach Ullrich auch die Akzeptanz von zum Teil verschwörungsnarrativen Erklärungsmustern, die bruchstückhaft, inkonsistent und fluide sind.


Die Tolerierung von Leerstellen und Widersprüchen ist zum einen auf ein Phänomen zurückzuführen, das der Philosoph Norbert Paulo für postfaktisches Denken in Filterblasen beschreibt: den Erzähler*innen wird vertraut, da sie epistemische Peers sind, also Mitglieder der ingroup, deren ähnliche Weltanschauungen für die Beurteilung der jeweiligen Information wichtiger sind als die Inhalte. Vertrauen auf der Mikro-Ebene kommt also ein hoher Stellenwert zu. Die Aktivist*innen vertrauen Menschen, zu denen eine persönliche oder eine medial vermittelte Beziehung besteht. Zudem glauben sie den Erklärungsmustern der Bewegung aufgrund des Misstrauens nach außen, das ähnlich wie im Fall von Verschwörungserzählungen dazu führt, dass den Verschwörer*innen – beziehungsweise hier dem ‹System› – alles zugetraut wird, auch widersprüchliche Pläne oder Taten.


Foto: Markus Spiske/Unsplash

In einer prinzipiell für unsicher gehaltenen Welt mit unklaren Spielregeln, also in einer – um mit Paulo zu sprechen – Situation epistemischer Unsicherheit, sorgt das Misstrauen dafür, dass alles für möglich gehalten wird. Auf diese Weise wird eine Filterblase erzeugt, die die Bewegungsmitglieder von der übrigen Gesellschaft isoliert und ein geschlossenes, wiewohl häufig lückenhaftes und inkohärentes Weltbild erzeugt. Dadurch wird die Generierung von Misstrauen nach aussen und Vertrauen nach innen noch befördert. Es handelt sich also um ein selbstverstärkendes Wissenssystem.


Das Misstrauen gegenüber der outgroup wird durch situationale und gesellschaftliche Faktoren verstärkt. Der Ruf der etablierten Medien ist in den letzten Jahren beschädigt worden in Zusammenhang mit Qualitätseinbussen des schnelllebigen, nicht immer sorgfältig recherchierenden Clickbait-Journalismus, durch diverse Skandale und teils als einseitig empfundene Berichterstattung. Wissenschaftler*innen kam während der Corona-Pandemie zwar einerseits zunächst als Expert*innen eine hohe Deutungsmacht zu, andererseits erlitt die Wissenschaft jedoch zunehmend einen Autoritätsverlust, da einander widersprechende Theorien in Bezug auf das Virus nicht dem Work-in-progress-Charakter wissenschaftlichen Arbeitens zugeschrieben wurden, sondern mangelnder Kompetenz oder einer politischen Agenda. ‹Alternative› Medien und Wissenschaftler*innen hingegen würden, wie es die Soziolog*innen Nadine Frey, Robert Schäfer und Oliver Nachtwey in ihrer Untersuchung der Querdenker*innen-Bewegung darstellen, als Teil der ingroup und damit als vertrauenswürdig wahrgenommen aufgrund ihrer zur Bewegung passenden Positionierung gegen den ‹Mainstream›. Und auch der Staat ist von Teilen der Bevölkerung, beispielsweise in der ehemaligen DDR, biografisch als nicht vertrauenswürdig erfahren worden.


Populismus und generalisiertes Misstrauen

Wenn thematisch weit gestreute Gruppen gemeinsam zu einer Demonstration aufrufen, handelt es sich also um Versuche, unterschiedliche Themen über Misstrauen für populistische Aktivismen fruchtbar zu machen. Das Misstrauen wird mit immer neuen konkreten Inhalten gefüllt, was zur Entstehung generalisierten Misstrauens beitragen kann. Dieses kann im Zuge länger andauernder Krisen wie der Pandemie als allgemeines Misstrauen gegenüber Politiker*innen, Institutionen und einzelnen gesellschaftlichen Teilgruppen sichtbar werden. Generalisiertes Misstrauen ist ein Ergebnis von Polarisierungen, von Störungen im regulatorischen System der Demokratie, die unterschiedliche Interessen gegeneinander austariert.


Das Vertrauen in dieses System hat, wie Nico Schrode schreibt, aufgrund des Eindrucks einer Labilität des Modernen und aufgrund schwindender Sicherheiten abgenommen. Wachsende Unterschiede zwischen Arm und Reich sowie Ohnmachtsgefühle, ökonomischen Dynamiken und politischen Entscheidungen ausgeliefert zu sein, die zudem nicht immer hinreichend beziehungsweise verständlich kommuniziert werden, dürften dazu beigetragen haben, das Vertrauen in Institutionen zu untergraben. Dadurch wurde das Entstehen rechts- wie linkspopulistischer Bewegungen begünstigt – nach der Finanzkrise 2008, während der sogenannten ‹Flüchtlingskrise› und jüngst im Zuge der Pandemie.


Generalisiertes Misstrauen korrespondiert mit einem dichotom-antagonistischen populistischen Denkschema des wir gegen sie. Dieses verstärkt die Bewegungen eigene Tendenz der Unterscheidung zwischen ingroup, der vertraut wird, vs. outgroup, der misstraut wird. Misstrauen ist damit konstitutiv für das populistische Programm, insbesondere die Konstruktion eines Gegensatzes zwischen ‹Elite› und ‹Volk›.


Vertrauen ist für das Funktionieren von Demokratien entscheidend.[iii] Es wäre daher wünschenswert, Vertrauen auf unterschiedlichen Ebenen wiederherzustellen. Es ist ein wesentliches Element und eine Voraussetzung für Politik, die Kooperation, Gemeinschaftsbildung und das Funktionieren der Gesellschaft als Ganzes ermöglicht.


 

[i] Zu emotionalen Widerständen gegen queere Bewegungen, Gender Studies und Gender Mainstreaming s.a. Marion Näser-Lather, Anna Lena Oldemeier und Dorothee Beck: Die Gesichter des Janus. Antifeminismus zwischen Backlash und anderer Moderne. In: Dies. (Hg.): Backlash?! Antifeminismus in Wissenschaft, Politik und Gesellschaft. Sulzbach/Taunus 2019, S. 7–8. [ii] Vgl. Sven Reichardt (Hg.): Die Misstrauensgemeinschaft der „Querdenker“. Frankfurt am Main/New York 2021. [iii] Donatella Della Porta: Kritisches Vertrauen. Soziale Bewegungen und Demokratie in Krisenzeiten. In: Jörg Rössel, Jochen Roose (Hg.): Empirische Kultursoziologie. Festschrift für Jürgen Gerhards zum 60. Geburtstag. Wiesbaden 2015, S. 221–241, hier S. 223.



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